Man muss schon genau hinschauen, um zu merken, dass das Kunst ist. Oft gibt es besorgte Anrufe bei der Polizei, wenn diese Skulptur aufgestellt wird: „Hier liegt jemand. Wer ist denn zuständig? Kann mal jemand nach ihm sehen?“
Wenn man näher ran geht, ist zu erkennen: Diese Szene ist nicht echt. Die Bank, der Mensch darauf, alles ist aus Bronze. Täuschend echt dargestellt. Sein Gesicht ins nur schemenhaft erkennbar, seine Füße ragen unter der Decke empor. Und wenn ich mir die genauer ansehe, merke ich: Sie sind der Schlüssel zu seiner Identität. Denn sie sind gezeichnet. Sie tragen Wundmale, sind durchstoßen von Nägeln. An seinen Füßen ist der Obdachlose erkennbar als Jesus Christus.
Die Skulptur ist ein Werk des kanadischen Künstlers Timothy Schmalz. Sie heißt „Homeless Jesus“ („Obdachloser Jesus“) und ist sein bekanntestes Werk. Timothy Schmalz hat Jesus so dargestellt, dass er sich in das Bild unserer Städte einfügt. Ein Mensch, ohne Namen. Wie ich ihn oft nur in den Augenwinkeln wahrnehme, im Eingang einer Bank an eine Säule gelehnt. Oder vor dem Supermarkt auf einer zerschlissenen Decke mit einem Pappbecher in der Hand.
Bei Matthäus steht im 25. Kapitel:
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Jesus macht Ernst. In jedem, dem wir begegnen, könnten wir ihm begegnen.
Ich denke: Das kann ich nicht schaffen. Ich habe auch meine eigenen Probleme. Ich kann mich nicht um alle kümmern. – Ich erinnere mich an Gelegenheiten, bei denen ich lieber auf mein Handy geschaut habe, als nach rechts und links. Wenn ich zügig an dem Pappbecher auf dem Asphalt vorbeigegangen bin, weil ich es eilig hatte und dachte, ich hab‘ jetzt keine Zeit, mein Portemonnaie heraus zu kramen. Eine ganze Stadt voller Christusse, an jeder Ecke in jedem Gesicht. Das erdrückt mich.
Aber ich glaube – so ist das hier gerade nicht gemeint: Jesus wird nicht mein Handeln zum Maßstab meines Schicksals machen. Denn Jesus sagt ja: „Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters.“ Das bedeutet also: Wir sind schon Gesegnete. Dass wir zu Jesus gehören, das steht schon fest. Und gerade dadurch sind wir frei und können versuchen, in jedem, der uns begegnet, Jesus zu sehen.
Diese Aufforderung Jesu bedeutet dabei auch nicht, Armut zu romantisieren. Als wäre es so, dass wir Bedürftigkeit geradezu bräuchten, um uns kümmern zu können und Jesus zu erleben. Nein, auf keinen Fall. Jesus legt seinen Finger in die Wunde unserer ungleichen Lebensbedingungen. Und ruft uns zum Handeln auf. Aber er verspricht dann auch: Gerade da, wo wir uns fürsorglich begegnen, am Schicksal des Anderen Anteil nehmen – da webt sich Jesus in unsere Begegnungen ein. Wo wir zu zweit oder zu dritt ernst nehmen, dass unser Leben miteinander zu tun hat, dass es für mich einen Unterschied macht, wie es dir geht. Denn letztlich, glaube ich, ist ja keiner von uns nur Bedürftiger oder Fürsorgende. Sondern wir sind alle beides: Gesegnete und Angewiesene auf das Evangelium.
Und dann wird sich etwas davon erfüllen, was Jesus versprochen hat, als er die Jünger das letzte Mal gesehen hat: „Siehe ich bin bei euch alle Tage, bis zum Ende der Welt.“ (Mt. 28,20).
Wer weiß, wie du das nächste Mal handelst, wenn du jemanden ohne Wohnung triffst. Vielleicht ergibt sich ein Gespräch. Vielleicht gibst du von dem, was du hast. Und empfängst etwas anderes von ihm. Denn er ist Bruder. Und sie ist deine Schwester. Und Jesus wird dabei sein.
Amen.
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