In der Kathedrale Sainte Marie-Madeleine in Vézelay (Frankreich) ist auf einem Säulenkapitell aus dem 12. Jahrhundert folgendes Bild zu sehen:
Die Säule zeigt einen Mann, der einen anderen auf den Schultern trägt – wie ein Hirte ein Lamm trägt, das nicht mehr selbst laufen kann. Der Mann über den Schultern wirkt schlafend oder sogar leblos, sein Körper ist schlaff, seine Augen sind geschlossen. Die Säule trägt keine Beschriftung. Die Bilder ringsum deuten jedoch darauf hin, dass es sich hier um zwei Männer handelt, die einander gut kennen: Jesus und Judas.
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Im Matthäusevangelium lesen wir, dass Judas am Ende noch versucht hat, alles wieder rückgängig zu machen. Denn dass sie Jesus wirklich zum Tode verurteilen – das hat Judas nicht gewollt, auf gar keinen Fall. So läuft er zum Tempel mit den 30 Silberstücken, an denen Jesu Blut klebt. Und er bekennt, bitter und ehrlich: „Ich habe große Schuld auf mich geladen“. Aber keiner will es hören. „Was geht uns das an? Wir wollen dein Geld nicht.“, sagen sie. Judas hat keinen, der sein Geld will. Und er hat nicht mal einen, der ihm zuhört. Niemand will etwas mit ihm zu tun haben. Keiner hat ein Interesse daran, was das Erlebte für ihn bedeutet: Dass man mit so einer Schuld allein nicht fertig wird. Judas ist ganz alleine mit sich und seiner Schuld. Und er spricht über sich selbst das Gericht. Er erhängt sich an einem Baum.
Dabei hat er ja nicht als einziger Jünger an diesem Abend Schuld auf sich geladen. Es haben doch so viele der Zwölf an diesem letzten Abend enttäuscht: Petrus schwört Jesus noch kurz zuvor größte Treue und bekommt dann so kalte Füße, dass er sich dagegen wehrt, auch nur ein Bekannter von ihm gewesen zu sein. Jesu Jünger schlafen im Garten Gethsemane ein, obwohl Jesus sie eindringlich bittet, mit ihm zu wachen und zu beten. Vielleicht sogar für ihn zu beten. Sie tun es nicht. Und dann, als Jesus verhaftet wird, da rennen alle davon. Sie fliehen. Keiner bleibt.
Anders als Judas, haben die anderen Jünger ihr Verhalten nicht kühl berechnend geplant. Aber auch sie haben ihre Taten geahnt. Denn als Jesus ankündigt, dass einer aus der Runde ihn ausliefern würde, da sagen sie alle, einer nach dem anderen: „Sag, Herr, werde ich es sein?“ Nicht einer von ihnen kann zu diesem Zeitpunkt sicher sagen, am Ende des Abends auf der richtigen Seite zu stehen.
Am Ende ist es aber Judas, der Jesus verrät und der damit auch diese untilgbare Schuld fühlt. Seine Reue ist tief und ehrlich und bitter. Aber keiner will ihn hören. Und schon bald kann ihn keiner mehr hören. Denn noch bevor Jesus stirbt, ist Judas tot.
Und das bedeutet, Judas wird nicht mehr mitbekommen, wie die Geschichte weitergeht: Wie Jesus stirbt und der Vorhang im Tempel zerreißt. Judas kriegt nicht mehr mit, wie die Jünger sich verstecken und sich nicht mehr auf die Straße trauen. Und er erlebt nicht mehr, wie sich dann an diesem einen Morgen eine wunderbare unglaubliche Geschichte ausbreitet, mit einem Licht, das heller und heller die Herzen erleuchtet. Er kriegt nicht mehr mit, wie sie alle nacheinander Jesus begegnen, im Garten und auf der Straße, beim Lagerfeuer mit gebratenem Fisch – wie es Ostern wird für jede und jeden einzelnen von ihnen auf ganz besondere, eigene Weise.
Für Judas kommt Ostern zu spät. Vielleicht hätte es nur einen einzigen gebraucht, der ihm sagt: „Erzähl mir von dem, was du dir an Schuld aufgeladen hast.“ Oder eine, die sagt: „Ich verstehe nicht, wie du das tun konntest. Aber das verstehst du anscheinend auch selbst nicht mehr.“ Vielleicht hätte es nur eine einzige Begegnung gebraucht, um ihn über die drei Tage zu retten. Sodass auch er im Dunkeln seiner Schuld das Osterlicht des neuen Lebens erblickt hätte.
Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eins davon verliert, lässt er dann nicht die neunundneunzig in der Wüste zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet? Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es voll Freude auf die Schultern, und wenn er nach Hause kommt, ruft er: „Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf wiedergefunden, das verloren war!“ Ich sage euch: Ebenso wird im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die keine Umkehr nötig haben. Lk 15,3-5
Die Bildhauer der Säule in Vézelay sind sich sicher: Wir müssen Jesus ernst nehmen, wenn er sagt, dass er der gute Hirte ist. Der gute Hirte ist gekommen, um auf den eigenen Schultern heimzubringen, was verloren gegangen ist. Auch wenn es sich für Judas so angefühlt haben mag, als hätte er sich so weit verrannt, dass es keinen Weg zurück mehr gibt – der gute Hirte hat ihn dort gefunden und abgeholt, wo er sich selbst das Urteil gesprochen hat. Jesus hat sich die Schuld des Judas aufgeladen, sie mitgenommen in seinen Tod. Und hat Judas nach Hause getragen. Ins Licht. Dahin, wo neu werden kann, was aussichtslos und eingefahren ist. Dahin, wo heil wird, was zerbrochen schien.
Wenn es Ostern wird, ist keiner zu eingefahren, keiner zu verrannt, keiner zu verstrickt, um nicht gefunden zu werden. Das gilt für Petrus und Simon, für Andreas und all die anderen. Das gilt für Judas. Und für mich und dich. Amen.
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Der Psalm 23:
„Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.“
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